Die Angst, nicht gut genug zu sein

Liebe Anna!

 

Gestern hab ich mich nach langer Zeit wieder mit Nora getroffen. Und ob du’s glaubst oder nicht, sie ist nach wie vor die Assistentin von Herrn Direktor M.

Du kannst dir vorstellen, worüber wir den halben Abend lang gesprochen haben. Genau. Über den Mann, mit dem sie montags bis freitags bei Tageslicht ihre Lebenszeit teilt.

 

Ich konnte schwer glauben, in welch belastender Situation sie sich nach wie vor befindet. Wir beide wissen, dass Nora keine verbalen Rundumschläge macht, wenn es nicht sein muss. Wenn sie sich mal beschwert, dann wissen wir beide, dass wirklich Feuer unterm Dach ist.

 

Unsere liebe Nora. Dir muss ich ja nicht extra alle ihre guten Seiten aufzählen. Aber der Vollständigkeit halber fasse ich sie nochmal kurz zusammen: Nora ist:

gebildet, zuvorkommend, gewissenhaft, zuverlässig, freundlich, ordentlich und - last but not least - hat sie ihr Herz am rechten Fleck. Abgesehen davon ist sie äußerst attraktiv, aber das erkennt sie selbst momentan auch nicht mehr.

 

Und weißt du, was Herr Direktor M. macht?

Oder besser gesagt, was er nicht macht?

Er erkennt das alles nicht.

Oder er erkennt es, zeigt das aber nicht.

Nora macht täglich Überstunden, Nora vergisst, Wasser zu trinken, Nora geht vor lauter Stress nicht mal auf die Toilette. Nora hat Nackenverspannungen, Magenschmerzen und schlaflose Nächte.

Nora versucht, ihrem Chef zwischen Tür und Angel die allerwichtigsten Mitteilungen zu machen und hat ständig das Gefühl, sowieso nie mit etwas fertig zu werden. Außerdem - du kennst sie ja - ist sie so empathisch und merkt genau, welche Themen ihm auf die Nerven gehen, sodass sie sich verpflichtet fühlt, sie von ihm fernzuhalten, obwohl sie in sein Aufgabengebiet fallen.

 

Und - Nora hat Angst. 

Angst, nicht gut genug zu sein und Angst, ausgetauscht zu werden und ohne Job dazustehen.

 

Beim zweiten Glas Wein im Kerzenschein habe ich hab dann dezent versucht, ihr Weltbild wieder etwas zurecht zu rücken. 

Wir haben viel über die Themen Wertschätzung, Klarheit und Ausstrahlung gesprochen und was das alles mit einer guten Zusammenarbeit zu tun hat.

Damit du auch im Bild bist, fasse ich dir hier kurz alles Wesentliche zusammen. 

 

1. Zum Thema Wertschätzung habe ich sie daran erinnert, dass ein Vorgesetzter zwar eine andere Position als seine Assistentin hat, was bedeutet, dass er für ein anderes Aufgabengebiet zuständig ist und ein höheres Einkommen bezieht. Es bedeutet aber nicht, dass er als Mensch einen höheren Wert hat, der ihn dazu berechtigt, die Würde seiner MitarbeiterInnen zu untergraben.

 

2. Ich habe Nora an ihr Recht auf klare Antworten, welche ihr Aufgabengebiet betreffen, erinnert und daran, dass es in Ordnung ist, nachzufragen, bis sich ein angenehmes Gefühl in ihrem Körper sowie Klarheit im Kopf einstellen und sie weiß, welche Aufgaben wie und bis wann zu erledigen sind. 

 

3. Ich habe sie daran erinnert, dass eine gute Assistentin ist gold wert. Und sich eine gute Assistentin dessen bewusst ist. Sie kennt ihren Wert und fordert den nötigen Respekt ein. Ja, man darf auch seinen Vorgesetzten höflich und angemessen um Respekt bitten. Dafür braucht man Mut, eine entsprechende Vorbereitung und eine adäquate Körpersprache. Und es funktioniert. Ich hab das selbst schon gemacht. 2 Tage später hat sich mein damaliger cholerischer Chef bei mir für sein Verhalten entschuldigt und es tatsächlich verändert. Das habe ich ihm hoch angerechnet. Damals war ich übrigens zarte 22 Jahre jung. Du erinnerst dich noch?

 

4. Ich habe sie ermutigt, wieder absolut aufmerksam in Bezug auf ihre körperlichen Signale zu sein, die ihren Stress anzeigen. Bei Nora ist das der Druck auf ihrer Brust. Ich merke es bei immer daran, dass mein Rücken „zu brennen“ beginnt. Was sind eigentlich deine ersten Anzeichen, Anna? Siehst du, es gibt doch noch etwas, das ich von dir nicht weiß ;) Jedenfalls haben wir darüber gesprochen, dass sie  bei den ersten Anzeichen sofort ihren Atem einsetzten sollte. Wie wir wissen, gibt es nichts, das sofort so schnell und zuverlässig wirkt, wie die bewusste Verbindung mit dem Atem. Das einfachste, was wir in stressigen Situationen machen können, ist, regelmäßig etwas länger auszuatmen als einzuatmen. Unser Körper versteht das als Zeichen, dass es jetzt nicht um Leben oder Tod geht, dass er Spannung loslassen kann, was zur Folge hat, dass er wieder zurück in seine natürliche Größe und Würde

kommen kann. Und dann hat Nora wieder die Ausstrahlung, die uns an ihr so sehr fasziniert. Und Herr Direktor M. bekommt in dem Moment die Chance, Nora ebenfalls auf ganz neue Art und Weise wahrzunehmen. 

 

PS: Ich weiß, auch Herr Direktor M. steht unter massivem Druck. Ich gehe aber nicht von meinem Standpunkt weg, dass das trotzdem keine Rechtfertigung für seine aktuellen Umgangsformen ist. 

Weil: Entweder wir schnauzen uns alle gegenseitig an und entwickeln Verständnis für diese Tonlage, weil wir alle ja so sehr gestresst sind (wer ist da eigentlich der Urübeltäter?) oder wir unterbrechen den Kreislauf und überlegen uns, auf welche Weise wir gerne behandelt werden möchten und wie wir selbst mit anderen umgehen möchten. 

 

Wertschätzung ist auf alle Fälle keine Frage der Hierarchie. Wertschätzung ist die Grundlage für ein lebens- und liebenswertes Miteinander. 

 

Aber wem sag ich das? Wir sind uns da sowieso einig :)

 

Bis gleich!

Kein Mensch kann die in ihm angelegten Potentiale entfalten, wenn er in seiner Würde von anderen verletzt wird oder er gar selbst seine eigene Würde verletzt. (Gerald Hüther)

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