Sich Sorgen machen. Eine gute Idee?

Liebe Anna!

 

Ich musste in letzter Zeit viel an die Geschichte denken, die du mir von Leo erzählt hast und verstehe voll und ganz, dass du dir große Sorgen um ihn machst. Seine Situation ist wirklich nicht einfach. Das ist nicht schön für ihn, und für dich ist das auch schwer zu ertragen. 

 

Du fragst dich natürlich, was du noch für ihn tun könntest und erkennst immer mehr, dass du bereits alles in deiner Macht stehende für ihn getan hast. Und dann merkst du, dass wenn du nichts mehr weiter zu seinem Wohlergehen beitragen kannst, die Sorgen um ihn plötzlich wieder stärker werden als zuvor ... Ich verstehe dich so gut!

Aber weißt du, ich denke, mit den Sorgen ist das so eine Sache. Sorgen beziehen sich ja immer auf einen gegenwärtigen Zustand, der schwer auszuhalten ist, und einem ungewissen Ausgang in der Zukunft. Und Zukünftiges kann sich schon nach unseren Befürchtungen entwickeln und tatsächlich genau so eintreten, aber genauso gut kann es eben auch ganz anders und sehr erfreulich kommen. So ist das Leben - das haben wir doch schon so oft festgestellt! Weißt du noch, als wir erkannt haben, dass sorgenvolle Gedanken ohne aktive Handlungen eine Energie in uns erzeugen, die wenig Erbauendes in sich hat? Wenn wir genau hin sehen - oder besser noch: hin spüren, dann bemerken wir jedesmal, dass Sorgen nicht stark machen. Sondern, dass Sorgen ohne Handlungen im Grunde alle Beteiligten schwächen.

Leo hat sich doch mit seinem Problem an dich gewandt, weil er weiß, dass du eine starke Persönlichkeit bist und er sich Kraft, Zuversicht und Stärke von dir erhofft hat. Und dein Mitgefühl natürlich. Aber dass du mit ihm leidest, das will er bestimmt nicht - und es nützt ihm auch nichts.

Natürlich hast du dir nicht ausgesucht, dir unentwegt Sorgen zu machen. Ist doch klar, wenn einem jemand am Herzen liegt, ist es eine natürliche Sache, diese Schwere zu spüren, sobald man sein oder ihr Wohlergehen in Gefahr sieht. Nichts desto trotz verändert diese Schwere die Situation aber nicht zum Besseren. Darauf weisen wir beide uns Gott sei Dank regelmäßig gegenseitig immer wieder hin. Ich kann mich noch gut erinnern, als du für mich da warst, als ich in diesem Dunkel festgesteckt habe. Ich halte jetzt mal schriftlich für uns beide fest, wie wir unseren sorgenvollen Zustand immer wieder verändern können: 

 

Wir könnten zum Beispiel mit unserer Sorge sprechen. Zuhören, was sie genau zu sagen hat. Durch eine klar formulierte Sorge werden wir in aller Regel viel schneller wieder handlungsfähig und sind hilfreicher für andere, als wenn wir ständig mit diffusen dunklen Stimmungen herumlaufen. Im Fachjargon nennen sie das „Affect Labeling“. Dieses „den Dingen bzw. Sorgen einen Namen geben“ führt, wie wir wissen dazu, dass sich unsere Amygdala (unser „Gefahrenriecher“ im Gehirn) beruhigt und wir wieder Zugriff auf jene Regionen, die uns gute Ideen und Lösungen und ein positives Miteinander ermöglichen.

 

Wir müssen uns leider tatsächlich auch von dem Gedanken verabschieden, dass es im Leben Sicherheiten gibt. Was würden wir beide nicht alles dafür geben, um das, was uns wichtig ist, in Watte zu packen? Ein Hoch auf die Versicherungsgesellschaften an dieser Stelle. Sie leben prächtig aufgrund unserer Ängste und Sorgen. 

 

Weißt du, wir dürfen nicht vergessen, dass uns niemand versprechen kann, dass sicher immer alles genauso entwickelt, wie wir uns das wünschen. Diese Tatsache nicht nur abzunicken, sondern mit Haut und Haaren anzuerkennen, fühlt sich für mich wie ein Stich ins Herz an. Aber im nächsten Moment, auf den zweiten Blick, kann ich eben genau daran die Kostbarkeit und die Nicht-Selbstverständlichkeit des Lebens erkennen. Die Fragilität. Das Wunder. Und wenn ich dann für einen Moment still werde, meinen Körper entspannen lasse, loslasse, dann komme ich in Kontakt mit so etwas wie Demut. Stille und Demut.

 

Die einstige Schwere, die Hilflosigkeit, nicht alles regeln und kontrollieren zu können, löst sich dann durch diese Hingabe langsam in einer Geborgenheit von etwas Größerem auf.  

Und ich denke, dass wir als Menschen eingeladen sind, nein - ich würde sogar sagen, dass es ist unsere Verpflichtung ist - eine aktive Rolle in diesem Größeren einzunehmen. Unseren Verstand und unsere Herzen zugunsten der Entwicklung des Großen Ganzen einzusetzen. Voller Mut, voller Zuversicht und voller Neugierde und mit unserer ganzen Schöpferkraft. 

Für mich ist es aber wichtig,  jenen Punkt zu erkennen, an dem ich die Kontrolle über etwas ausüben möchte, das einfach nicht mehr in meiner Kraft und Macht steht.

Jenen Punkt, an dem ich alles getan habe, was in meinen Händen liegt und die altbekannte Sorge anklopft und nach Sicherheit verlangt. 

 

Die gibt es nicht. So schmerzlich diese Erkenntnis für mich auch ist. Versprich mir bitte, dass wir auf uns aufpassen und auf alle Ewigkeit einen großen Bogen um Menschen ziehen, die uns etwas anderes glauben machen wollen. Wir dürfen niemals in die Falle von jenen tappen, die uns im Gegenzug von Abertausenden von Euros versprechen, uns in das Geheimnis der „einzig richtigen“ Methode einzuweihen, um alles zu kreieren, was unser Herz begehrt. Jene, die uns im verletzlichen Moment unserer größten Ängste und Sorgen erwischen und eindringlich kundtun, wir müssten nur auf  „die richtige“ Art und Weise manifestieren, unser Karma auflösen oder wahlweise täglich im Einbeinstand linksdrehendes Wasser trinken.  Dann - und nur dann - wären wir allmächtig und auf alle Ewigkeit befreit von all den unangenehmen Empfindungen, die dieses Leben für uns im Angebot hat. Oder eben auf jemanden mit Allmachtsphantasien hereingefallen. Shit.

Sollten wir in der darauf folgenden Zeit nach wie vor nicht wie zwei Honigkuchenpferde durch’s Leben galoppieren, läge das bestimmt daran, dass wir noch etwas Dunkles aus dem 12. Jahrhundert in unserer Aura vergessen hätten. Selber schuld also. Wieder einmal. Shit, shit, shit.

Was für ein Hochmut gegenüber der Schöpfung! Mir wird ganz übel.

 

Kannst du dich noch an unser Küchengespräch erinnern - an die laue Herbstnacht, in der wir Wache gehalten haben, weil M. und J. unbedingt im Freien schlafen wollten? Als uns um 2 Uhr morgens  klar wurde, dass unsere Sorgen am liebsten Versicherungen und Versprechen hätten, dass immer alles genau so kommt, wie wir das für unser Seelenheil bräuchten? Aber - wie haben wir so schön gesagt: „Um mit dem Leben zu tanzen,  bleibt uns nichts anderes übrig, als anzuerkennen, dass diese Versicherungen und Versprechen von vielen Seiten zwar selbstbewusst angepriesen werden, aber zu guter Letzt niemand mit Rückgrat dahinter steht, der seinen oder ihren hübschen Kopf hinhält, wenn die Kraft hinter dem Großen Ganzen doch in eine andere Richtung wirkt.“ Darauf haben wir angestoßen. 

 

Ich finde es ehrlich gesagt auch sehr befreiend, dass unsere Macht und unser Handeln nur bis zu einem unbestimmten Punkt wirken. Und wir uns hinter diesem Punkt nur noch demütig in das Netz der Geborgenheit fallen lassen können. Unseren Körper lehren können zu entspannen und loszulassen inmitten von grauen Wolken.  Zu atmen und zu wissen, dass wir dadurch neue Energie generieren, die wir für unsere nächsten Schritte, die wir, in gewohnter Manier, voller Zuversicht gehen werden, nur allzugut gebrauchen können.

 

Denn, meine liebe Anna. Wie sagen wir immer so schön? Die Zukunft ist offen und voller Möglichkeiten. Darum sorgen wir uns nicht, sondern leben. Mit allem, was dazugehört.

 

Bis gleich!

Dass die Vögel der Sorge und des Kummers über deinem Haupt fliegen, kannst du nicht ändern. Aber dass sie Nester in deinem Haar bauen, das kannst du verhindern. (Martin Luther)

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